Annett Schauß hält es mit unscheinbaren Dingen des Alltags
Annett Schauß hält es mit unscheinbaren Dingen des Alltags Annett Schauß hält es mit unscheinbaren Dingen des Alltags, die sie auf verschiedenen Schauplätzen städtischen Lebens entdeckt. Im seriellen Umgang mit den Motiven, die sie, ganz aus dem Strich und ohne die Zeichnung zu kolorieren, mit dünn aufgetragenen wässrigen Farbspuren entwickelt, bewegt sie sich in losem Bezug zur physikalischen Wirklichkeit.     Ohne sich auf konkrete Wiedererkennungswerte zu beziehen, nähert sie sich der Dokumentation topografischer Erinnerungen. Nicht als naturgetreue Wiedergabe, sondern in Verbindung des Wesentlichen mit dem Unwesentlichen. Beides wird mit künstlerischen Mitteln der Vereinfachung intensiviert. Auf diese Weise manifestieren sich in ihren von lockerem Duktus bestimmten Tuschzeichnungen optische Impressionen, beschauliche Sachlichkeit und narrative Elemente.     Während die vom intuitiven Impuls lebende Bühnenrealität durch theatralische Übertreibung charakterisiert ist, die zum Illustrativen tendiert, verwandelt sie die urbane Landschaft durch Staffelung und Verschachtelung der Fassaden in eine wuchernde Bildarchitektur, bei der sich verschobene Raum- und Größenverhältnisse und vereinfachte, lockere Zeichenweise zu atmosphärischer Darstellung verbinden. Diese ist weniger von lokalspezifischen Besonderheiten als von ahnungsvollem Flair bestimmt. In dem sich in stilisierten Gründerzeitfassaden die Spuren vergangenen und gegenwärtigen Lebens manifestieren, kann man von einem gleichnishaften Umgang mit dem Stadtbild als Spiegel der Lebensverhältnisse sprechen, ergänzt und mit Blick auf menschenleere Räume von sozialer Milieuschilderung ohne Akteure. 
Herbert Schirmer, Kunstwissenschaftler/Publizist, Ausstellungsmanager, Text aus: Sabine Voerster (Hrsg.), 38 Künstler im Barnim, 2015


Ausstellung »Traum-Stadt«   
»… Flächigkeit ist ein charakteristisches Merkmal, eine gestalterische Eigenart der Künstlerin, die sie kaum von Bild zu Bild ändert. Viele der Bilder, die kaum Himmel kennen, führen die Objektflächen bis zur Formatgrenze. … Die deutliche Orientierung auf grafische Wirkung setzt den Ausschluss stark bunter Farben voraus, ohne dass das Farbige in den Werken von Annett Schauß zu kurz käme. Die weitgehende Reduzierung auf dünn aufgetragene Farbspuren, auf sparsam verwendetes Helldunkel aber bewusst eingesetzte Kontraste charakterisieren ihre Arbeiten, die Bestandteil der Ausstellung sind.…  Die fast grafisch anmutenden Werke zeigen die Art und Weise, wie Annett Schauß ihre Erzählungen in die Bildsprache transponiert.…Die Künstlerin eröffnet hier wie in anderen Bildern Möglichkeitsräume für menschliche Komödien, Tragödien, Lust, Schmerz und Trauer, für existenzielle Visionen, Sehnsüchte, Träume. Sie macht aufmerksam auf menschliche Beziehungen, auf deren Gebundenheit an Orte und Räume. Für die Gestaltung der Problematik nutzt sie die Enge des Schichtenraums. Die Nahsicht auf die Dinge und der radikale Ausschnitt verstärken die »Raumlosigkeit«. Ein enger Bühnenraum charakterisiert die Werke, in denen wie auf einer kleinen Theaterbühne die Auftritte der ausgewählten Objekte vorgeführt werden. Das Bild des Außenraums wird zur Kulisse. …«
Aus der Laudatio von Frau Prof. Marieluise Schaum, Galerie Biesenthal, 2017​​​​​​​
Vom Aufzeichnen und Drucken | Ausstellung mit Uta Oesterheld-Petry 
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Frau Oesterheld-Petry, liebe Frau Schauß, liebe Gäste,
Als Kind bin ich gern und auch relativ häufig mit meinen Großeltern mit dem Zug auf Reisen gegangen. Manchmal ging es in die Schweiz, häufig zu Verwandten nach Hamburg und von da aus weiter an die Nordsee. Startpunkt war immer meine Heimatstadt Freiburg im Breisgau. Der dortige Hauptbahnhof hatte viele Jahre lang einen durchaus sehr romantischen Charme mit einer großen Eingangshalle, grün verzierten korinthischen Säulen, einer eigenen Gepäckabfertigungshalle und strengen Schaffnern, die laut pfeifend darauf achteten, dass niemand zu nah an den Gleisen lief. 
Meist waren wir lange vor Abfahrt des Zuges bereits am Bahnhof, aßen und tranken eine Kleinigkeit und beobachteten das wuselige Treiben. Menschen kamen und gingen, redeten laut oder leise, rannten zum Gleis oder schlenderten gemütlich umher, warteten, hievten schwere Koffer oder reisten fast ohne Gepäck, verabschiedeten sich unter Tränen oder mit Küssen, winkten dem abfahrenden Zug hinterher, bis er außer Sicht war. 
Dann sagte meine Großmutter immer: »Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt.« Was sie mit diesem Zitat von Joseph Beuys meinte, konnte ich als kleiner Junge natürlich nur dunkel erahnen, aber dennoch ist mir dieser Satz immer im Kopf geblieben und begleitet mich bis heute bei fast jedem Aufenthalt auf einem Bahnhof. Der Hauptbahnhof als Schmelztiegel zahlreicher, ja schier unendlicher verschiedener Schicksale, die alle für einen kurzen Moment zusammentreffen, ohne voneinander zu wissen, aber doch irgendwie verbunden sind. So viele unterschiedliche Leben, so viele Geschichten stecken in all diesen Begegnungen, Begrüßungen und Verabschiedungen. Als stiller Beobachter kann man also an diesem Ort, am Hauptbahnhof, vieles miterleben, ohne genaueres ganz faktisch zu wissen. Man muss sich anhand weniger Merkmale und Anknüpfungspunkte etwas zusammenreimen, Puzzleteile zusammensetzen und Geschichten, nunja, erfinden. Wobei, ich sollte nicht sagen, man muss, man kann natürlich, man ist frei dazu, zu fantasieren und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Es spricht nichts dagegen, bei sich selbst zu bleiben und seinen eigenen kleinen und großen Problemen nachzugehen. Aber am Hauptbahnhof, draußen in der Welt also, prasseln so viele andere Lebensentwürfe auf uns ein, dass es fast unmöglich ist, sich dem Gedankenspiel gänzlich zu entziehen, wer dieser andere Mensch sein könnte und was die Geschichte dahinter ist. 
Bevor also die Reise, sei sie nun privater oder beruflicher Natur, überhaupt so richtig begonnen hat, das eigene Abenteuer, mag es vielleicht noch so unscheinbar sein, seinen Anfang nimmt, ja noch davor hat uns bereits das Leben der Anderen in seinen Bann gezogen. Sofern man bereit ist, den Blick zu öffnen, zu weiten, für ebenjenes Leben der Anderen, für die Geheimnisse der Anderen. 
Diesen feinen Blick haben Uta Oesterheld-Petry und Annett Schauß, und die hier ausgestellten Werke beweisen es eindrücklich. Über 40 Arbeiten der beiden Künstlerinnen sind zu sehen, und sie alle eint zweierlei: die handwerklichen Techniken ihrer Entstehung sowie die inhaltlich-thematischen Verbindungslinien. In dieser Woche jährt sich der Tag der Druckkunst zum fünften Mal, daher möchte ich kurz darauf eingehen, wie diese Arbeiten entstanden sind und in welche lange, wunderbare Tradition sie sich einreihen. Mit dem Tag der Druckkunst feiern wir und alle beteiligten Akteure die Aufnahme traditioneller Drucktechniken in das Bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der Deutschen UNESCO-Kommission. Die künstlerischen Drucktechniken des Hochdrucks, Tiefdrucks, Flachdrucks und deren Mischformen sind seit mehr als 500 Jahren Teil der europäischen Kultur und Wissensgesellschaft, und noch viel länger Teil der Menschheitsgeschichte. In Deutschland stehen Johannes Gutenberg und Albrecht Dürer stellvertretend für die Anfänge dieser Innovation. Der Name Gutenberg, übrigens ein gelernter Goldschmied, macht es schon deutlich: Druckkunst hängt eng auch mit dem Buchdruck als solchem zusammen. Und dieser war anfangs und bis weit ins 17. Jahrhundert durchaus eine eigene Kunst für sich, Zeitgenossen sprachen sogar vom »achten Weltwunder«. Aufwändig verzierte, geschmückte und goldschimmernde Prachtausgaben wurden zu hohen Preisen in die ganze Welt verkauft. Gleichzeitig war durch die neuen Möglichkeiten der Druckkunst mit auswechselbaren Lettern eine flexible, relativ kostengünstige und schnelle Erstellung größerer Auflagen möglich, was natürlich erheblich zu einer Demokratisierung bei der Verbreitung von Informationen beitrug. Zuvor war die Erschaffung und handschriftliche Vervielfältigung von Dokumenten und Büchern einzig das Metier einer kleinen Zahl von Spezialisten, in Europa insbesondere der gebildeten Mönche und Nonnen in den Skriptorien der Klöster. 
Der Zugang für breitere Bevölkerungsschichten war also äußerst beschränkt. Die neue massenhafte Verbreitung von Wissen, Nachrichten und Meinungen frei von einer direkten Kontrolle durch Kirche und Obrigkeit, setzte ungeheure gesellschaftliche Energien frei und brachte große soziale und politische Umwälzungen mit sich, wie es z.B. die Epoche der Renaissance sowie die Zeit der Aufklärung war. Das Verfahren des Setzens von Hand mit beweglichen Lettern blieb tatsächlich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unverändert, schuf aber dennoch die Grundlagen unserer heutigen Wissensgesellschaft. Heute werden diese traditionellen künstlerischen Drucktechniken in Deutschland und Europa vor allem von Bildenden Künstlerinnen und Künstlern gepflegt und weiterentwickelt. So wie bei uns Frau Oesterheld-Petry und Frau Schauß. Auch ihnen liegt dieser Demokratisierungs-Gedanke sehr am Herzen. Beide arbeiten oft und eng mit Schulklassen und Bildungseinrichtungen sowie Museen zusammen, um gerade junge Menschen für diese Techniken zu begeistern, ihnen dieses Handwerk nahe zu bringen. Und für Sie, liebe Gäste, gibt es am Samstagvormittag, 18. März, von 10 bis 13 Uhr in beiden Ateliers die Möglichkeit, verschiedene Drucktechniken, Radierung, Monotypie, Linolschnitt, unter fachkundiger Anleitung auszuprobieren. 
Die Bilder der beiden Künstlerinnen haben mich an besondere Momente meiner Kindheit erinnert und ich hoffe, auch Sie, liebe Gäste, lassen sich inspirieren von den Geschichten und Emotionen, die in den Bildern stecken. Die Werke von Uta Oesterheld-Petry und Annett Schauß wollen Erinnerungen hervorrufen, Erfahrungen teilen, Träume wecken. Sei es ausgelöst von Reisen nach New York oder Berlin, unterwegs in Heiligenstadt oder der freien Natur. Überall hilft der freie, klare, genaue Blick und eröffnet tiefere Bedeutungsebenen. Sie sehen also, liebe Gäste, die Mysterien finden auch in Heiligenstadt statt. Wir müssen nur offen sein und danach schauen. Vielen Dank!      
Dr. Gideon Haut, Heilbad Heiligenstadt, Direktor der städtischen Museen in Heiligenstadt Laudatio zur Ausstellung »Vom Aufzeichnen und Drucken«, 2023​​​​​​​
Begegnungen mit Aussichten 
Eine Begegnung im Alltag, in den Wirren der Großstadt erscheint oft zufällig, ungewollt, unangenehm. Oft gehen wir einer Begegnung aus dem Weg, wir haben anders geplant, keine Zeit für diesen immer wieder spannenden Augenblick auf das Unerwartete zu stoßen, uns damit zu beschäftigen. Wir haben keine Zeit, keine Lust, keine Kraft uns immerwährend mit diesen Begegnungen, den verschiedenen Weltbildern, Ansichten und Gefühlen auseinanderzusetzen. Die Anonymität der Großstadt bildet da einen besonderen Schmelztiegel dieser Oberflächlichkeiten ab. Diese aber nur scheinbare Oberflächlichkeit ist notwendig, weil in einer Zeit der Überflutung mit Reizen und Botschaften, die menschliche Auffassungsgabe oft bis an den Rand gefüllt und die Angst groß ist, darin zu ertrinken. Also recken wir unsere Nase in die Höhe oder ganz tief nach unten und verlieren uns in den Weiter des World Wide Web. Ihm vertrauen wir unsere Wünsche, Hoffnungen und Ängste an. Über diesen kleinen Communicator verlieben wir uns, treffen wir uns, trennen wir uns. Mit einem Klick in die Anonymität und gleichzeitig in die weite Welt. 
Diese Großstadt mit ihren Menschen und deren versteckten Hoffnungen und Ängsten bildet die Künstlerin Annett Schauß in ihren Arbeiten ab. Es sind die schemenhaften Häuserschluchten und Fassaden durch die ihre Protagonisten eilen, sich begegnen und manchmal auch verweilen. In ihren Bildern erzählt sie ihre Geschichten. Geschichten von Menschen in der großen Stadt, dem Verkehr und oft dem Chaos, den Geräuschen, den Situationen, die oft wirken als begegneten sich die Menschen auf einer Theaterbühne. 
Die Stadt ist unbestritten der Lebensraum der Zukunft. Auf nur zwei Prozent der Weltoberfläche beherbergen die Städte rund die Hälfte der Weltbevölkerung – bis zum Jahr 2050 wahrscheinlich sogar mehr als zwei Drittel. Die Stadt, geprägt durch Beton, Asphalt und Glas, erscheint dabei geradezu als der Inbegriff der Un-Natürlichkeit. Aber die Stadt hat eben auch ihren ganz eigenen Charme. Sie erstaunt, begeistert durch ihren ewigen Wechsel zwischen Ruhe und Rastlosigkeit, zwischen den Spuren der Geschichte und leuchtenden Glasfassaden und wenn man genau hinschaut auch den vielen kleinen Fenstern, die einen Blick in unsere Vergangenheit zulassen. 
Und genau diese Ambivalenz bildet Annett Schauß in ihren Bildern ab. Die Künstlerin ist in der Mitte dieser großen Stadt aufgewachsen. Hat mit den schrägen Vögeln an Stammtischen gesessen, mit den Künstlern die Galerien in den Hinterhöfen besucht, stundenlang beobachtet, skizziert und das ganze pralle Leben zwischen Brandenburger Tor und Oranienburger Straße live erlebt – auch den Wechsel zwischen dem morbiden Charme vergangener Zeiten und dem neuen Chic einer oft seelenlosen Ästhetik. All das können wir in ihren Arbeiten miterleben. In den Bildern dieser lebendigen Stadt treffen Arme und Reiche, Heimische und Fremde, Alte und Junge unmittelbar und unwillkürlich aufeinander. Dadurch, dass einem der Andere im Stadtraum begegnen, ist ein erster notwendiger Schritt zu ihrer Anerkennung und damit zu gesellschaftlicher Solidarität getan. 
Ein flüchtiges Lächeln, eine beiläufige Geste der Begrüßung, der Aufbau einer Kommunikation, all das zeichnet die Begegnung in den Schluchten der Großstadt aus. Sie ist das große Geheimnis sozialer Kompetenz. Es ist eine Kunst, aus Fremdheit – Bekanntheit und aus Differenz eine gemeinsame Ebene aufzubauen. Diese vielfältigen Beziehungen und Momente der Begegnung sind das Klima, sind die Substanz, aus der neue Formen des Zusammenlebens entstehen. Diese permanente Erzeugung von Neugier auf das Fremde, das Unbekannte, das Leben, bestimmen die Beziehungen der Menschen untereinander. Bestimmen ihre Formen des Zusammenlebens, ihre Formen der Liebe und Sexualität, der Rücksicht, der Vielfalt und letztlich auch eine ganz bestimmte Form der Glücksempfindung, die wir Menschen brauchen wie die Biene den Nektar zum Leben. 
In alten Zeiten gab es dafür auf dem Dorf das Wirtshaus, zum Bier nach dem Kirchbesuch, zum Umtrunk nach der Beerdigung, zum Tanz am Wochenende. Warum haben wir diese Orte der Begegnung einschlafen lassen? Keine hat sie uns weggenommen, wir haben sie einfach vergessen. Wer diese Neugier auf Neues, Fremdes bisher Ungesehenes und Unerfahrenes nicht mit einer gewissen auch kindlichen Naivität begegnen kann, wer das ablehnt, wer gar Hass und Zwietracht sät wird am Ende seiner Tage ärmer sein, oft einsam und verlassen. Auch damit das nicht passiert, haben wir die Kunst. Sie zeigt uns die Wege zu mehr Menschlichkeit, zu mehr Entdeckerfreude, zum mehr tolerantem Miteinander, zu mehr Phantasie und Empathie. Wir haben nur diese eine Welt, nur diese Menschen, die unsere Mitmenschen sind, nur diese eine Chance der Begegnung. Lassen wir die Chance nicht achtlos auf der Straße liegen. Und ob in der großen Stadt und dem kleinsten Dorf, überall soll gelten: Packen wir diese Chance an. Es lohnt sich. Also auf zur nächsten Begegnung.      
Michael Pommerening, Galerist, 2024, Regenmantel (Oderbruch)
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